Nachts, Regen

Erzählung
Foto von Trust „Tru“ Katsande auf Unsplash
Keine Ahnung, wieso ich hier bin. Wolfshunger nach Leben. Meine Unzufriedenheit über einen weiteren langweiligen Freitagabend. Da sitze ich auf der Gerberschanze. Meine Eltern sagen morgens, wenn sie nachts nicht schlafen konnten: "Die Jugend hat sich mal wieder auf der Schanze getroffen". Wie oft habe ich die Jugend mit Wolfsaugen verschlungen, von weitem. Ich gehöre nicht dazu. Ich habe keine Clique, mit der ich bis tief in die Nacht auf der Schanze feiern könnte.
Heute ist ein Tag in den Schulferien. Keine Schule, keine Jugend. So einfach ist das. Nur ich. Ich habe meinen Wolfsbauch auf die Außenmauer der Schanze gehievt und lasse die Beine hinunter baumeln. Es ist schon dunkel. Meine Eltern werden sich bald fragen, wo ich bleibe. Ein Sturm wäre fein. Nichts lässt mich so eins fühlen mit meiner Umgebung, wie ein Sturm. 
Es fängt an zu tröpfeln. Das ist das Einzige was passiert. Ich schließe die Augen und halte mein Gesicht dem Regen hin. Hinter mir höre ich Schritte. 
"Sie werden nass," sagt eine Männerstimme. Ich blicke mich um. Kein Schirm. 
"Sie auch," sage ich. Er kommt näher. 
"Darf ich," fragt er, und ohne die Antwort abzuwarten schwingt er seine Beine über die Mauer. Vier Beine überm Abgrund. Schweigen. Das Tröpfeln wird unmerklich stärker. 
"Gehen Sie immer im Regen spazieren," fragt er. Ich lache.
"Es regnet nicht immer," antworte ich. "Und Sie? Besitzen Sie keinen Schirm?"
"Nein," sagt er, "ich bin Musiker." Unerwartet, die Kombi.
"Man kann sicher auch mit Schirm musizieren," entgegne ich.
Ich versuche ihn durch die Dunkelheit zu orten. Eine dumpfe Fläche im Regengetrommel.
"Sie spielen Oboe," sage ich. Um etwas gesagt zu haben.
"Woher wissen Sie das," fragt er.
"Stimmt es denn," frage ich zurück.
"Ja," sagt er.
Er ist nicht die Jugend, die ich gehofft habe zu treffen. Aber er ist ein Mensch, der mit mir reden will. Er berichtet mir von Musikerkarierren und was ohne Karriere so passiert und bald ist mir klar, dass er nicht nur nicht die erhoffte Jugend ist. Er ist ein Mann, der vor allem nicht ist. Der nichts gefunden hat, von dem, was er mal suchte. Ich bin überrascht, dass man sein kann, ohne zu sein. Und noch mehr, dass man Musik machen kann, ohne erfüllt zu sein.
Der Regen wird stärker. Ein Rauschen, das seine Worte dämpft.
"Ich muss nach Hause," sage ich. Er schweigt. 
Ich schwinge meine Beine zur Schanzenseite. Er folgt. Wir gehen hinunter. 
"Gehen wir noch vor zum See," fragt er. 
"Von mir aus," sage ich. 
Als wir um die Ecke biegen, sehe ich den Regen im Licht der Laterne auf dem Pflaster tanzen. Der See liegt grauschwer dahinter.
"Ich tanze so gerne," sage ich.
Plötzlich nimmt er einen Pflasterstein vom Boden und schleudert ihn in Richtung See. Einen Moment halte ich den Atem an. Weiter nichts.
"Gute Nacht," sage ich. Ich drehe mich um und gehe. Keine Schritte hinter mir. Nach einigen Metern fange ich an zu rennen. Ich renne so schnell ich kann. Ich nutze die Winkel und die Schatten. Bis ich zu Hause durch die Haustüre bin. Erst dort bleibe ich stehen.